Jan Valtin: Tagebuch der Hölle
„Tagebuch der Hölle“ erzählt in autobiografischen Zügen die Geschichte der Komintern (1919–1943), der sowjetisch dominierten Nachfolgeorganisation der 1. Internationale, und gehört zu den großartigsten Schriften einer verlorenen Generation europäischer Revolutionäre. Jan Valtin interessiert sich schon in jungen Jahren für Politik und nimmt 1923 aktiv am Hamburger Aufstand teil. Danach reist er als agitierender Seemann auf den Weltmeeren und unterzieht sich 1925 einer Kaderschulung in Leningrad. Als Agent der Komintern koordiniert er weltweit Gewerkschaften der Matrosen und Seemänner. In den damaligen Zeiten vor der Erfindung des Luftverkehrs und des Internets ein Schlüsselfaktor zum Transport von Nachrichten, Propaganda, Waffen und Personen. Als er Anfangs der 1930er Jahre nach Deutschland zurückkehrt, geht der Wirbel aber erst richtig los. Ein extrem mitreißendes und aufschlussreiches Zeitdokument über die Skrupellosigkeit und Unfähigkeit der Komintern, ein Buch über den Aufstieg und den Machterhalt der NSDAP und über die Unfähigkeit der gesamten deutschen Linken, etwas dagegen zu unternehmen. (Verlagstext)

Wenn Geheimagenten Autobiografien schreiben, sollte man vorsichtig sein. Vor allem, wenn es sich, wie im Fall Valtin, der eigentlich Richard Krebs hieß (1905 – 1951), um einen Doppelagenten handelt. Denn am Ende arbeitete er nicht nur für die Komintern, sondern auch für die Gestapo. Da muss man Abstriche an der Glaubwürdigkeit der ein oder anderen Aussage machen, die nicht nur deshalb geschönt ist, um selber besser dazustehen, sondern auch, um (damals) noch lebende Personen zu schützen.
Aber es geht nicht um Einzelheiten. Es geht darum, wie anfangs lebendige Strukturen immer stärker verkrusten und in einem Apparat erstarrten, den zu reformieren ab einem bestimmten Punkt nicht mehr möglich ist. Schon gar nicht, wenn man selbst geholfen hat, Revolutionäre zu hörigen Marionetten einer Diktatur machen. Spätestens als Stalin das Ruder in die Hand nimmt und Abweichler kurzerhand ermorden lässt, ist klar, welche Konsequenzen Widerspruch hat.
Natürlich merkt Valtin, dass die neue Linie absurd ist. Die Sozialfaschismus-Theorie, nach der SPD und von ihr dominierte Gewerkschaften gefährlicher sein sollen als die NSDAP, führt dazu, dass die KP sich mit Nazis verbündet, um SPD-Veranstaltungen zu sprengen. Hinterher schlagen sich Kommunisten und Faschos in Straßenkämpfen wieder gegenseitig die Köpfe ein. Valtin zweifelt, macht aber mit. Er beschreibt detailliert, wie er sich zwar widerwillig, aber doch Schritt für Schritt der neuen Linie anpasst.
Entwicklungen von lebendiger Bewegung zu toter Institution gibt es überall. Zu jeder Zeit. Überall sitzen Menschen, die mit besten Absichten gerne anders würden, aber… die Vorschriften, die Vorgesetzten, die Karriere, die Feigheit, der Kontostand. Ob KP oder DGB, ob Sozialamt oder Jobcenter, ob lebendige Beziehung oder inhaltslose Ehe – wo Verhaltensmuster nicht infrage gestellt werden dürfen, bleibt kein Raum für Veränderung. Am Ende zerstört es nicht nur politische Entwicklungen, sondern die Menschen selber. So hockt Valtin schließlich jeder politischen Zukunftsvision beraubt in der Welt und hat nur noch den Wunsch nach Frau und Kind. Vom Revolutionär zum Privatier.
Der Roman, 1957 erstmals in Deutschland erschienen und jetzt von bahoe neu aufgelegt, ist ein echter Pageturner. Ein must read für jeden politischen Aktivisten. Klasse geschrieben, mit viel Einblick in den erstaunlich weltumspannenden Einfluss der Komintern. Aber er ist auch ein Buch, das einen plättet. Nicht nur, weil Valtin die Foltermethoden der Gestapo in allen Details beschreibt, sondern weil erschreckend klar wird, welche Möglichkeiten damals gnadenlos an die Wand gefahren wurden. In den 1920er und 1930er Jahren war die Komintern eine Macht. Sie hätte die Chance gehabt, Hitler zu verhindern. Und Franco wahrscheinlich auch.
Jan Valtin: Tagebuch der Hölle
786 Seiten, gebunden, 28,- €, bahoe books, ISBN 978-3-903478-36-7