Horst Stowasser: Anarchie
Dass die Gedanken, die sich Stowasser über Alternativen zu den jetzigen bzw. sattsam bekannten (gescheiterten) Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen (Kapitalismus/Marktwirtschaft, Kommunismus) macht, nicht falsch sein können, werden durch die „Finanzkrisen“ tagtäglich aufs Neue bestätigt. Seine umfassende Analyse der Ideen des Anarchismus ist aktueller und notwendiger denn je – alternative Zukunftsvisionen, z.B. jenseits der Warenwirtschaft, zu entwickeln und zu durchdenken, findet ja im alltäglichen Politzirkus unserer Parteien-Demokratie leider überhaupt nicht statt.
In „Die Idee“, und somit dem ersten Teil des Buches, geht es um die grundlegende Klärung dessen, was Anarchie bzw. Anarchismus eigentlich ist, was er will – und was nicht! Zunächst stellt er klar, dass Anarchie grundlegend gewaltfrei ist und nichts mit chaotischen Zuständen zu tun hat. Das Grundprinzip der Anarchie ist von seinen Ursprüngen an „Ordnung ohne Herrschaft“ (das Wort „Anarchie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „keine Herrschaft“).
Brutales Chaos gegen sanftes Chaos
Anarchie, ein Wort, das von jeher Schrecken ausgelöst hat, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als faszinierende Wundertüte. Sie will das »brutale« Chaos der heutigen Gesellschaft durch das »sanfte« Chaos vernetzter horizontaler Strukturen ersetzen, in der die Herrschaft des Menschen über sich und die Natur überflüssig wird.
Stowasser beschreibt die anarchistische Kritik am Staat, der Demokratie, vor allem der parlamentarischen Demokratie, dem Patriarchat, dem Kommunismus und Kapitalismus. Er zeigt, was Anarchie bedeutet, was Rätedemokratie bedeutet, oder wie Selbstorganisation in der bisherigen Geschichte der Menschheit realisiert und ausprobiert wurde. Auch geht er auf die Ökologie ein, auf mögliche Utopien der kommenden Gesellschaft, berichtet von den zahlreichen Gedankengängen von Proudhon, Kropotkin, Stirner, Bakunin, Mühsam und vielen weiteren. Auch beschreibt er die Positionen einzelner Parteien hinsichtlich des Anarchismus und Syndikalismus. Eine absolute Pflichtlektüre für Menschen, die sich einen schnellen, unkomplizierten Überblick über den Anarchismus verschaffen wollen.
Im Kapitel „Eine andere Ökonomie“, nimmt der Autor eine hervorragende und messerscharfe Analyse unseres Wirtschaftssystems vor und legt den Finger an viele Wunden. Dabei verschont er auch unsere „Wissenschaft“ (Betriebswirtschaftslehre etc.) nicht. Jeder BWLer, jeder Banker und alle Anhänger der ach so sozialen Marktwirtschaft sollten diese 25 Seiten mal gelesen haben.
Anarchistische Vergangenheit
Im zweiten Teil, „Die Vergangenheit“, liefert uns Horst Stowasser eine packende Zusammenfassung der Geschichte der Anarchie, von frühen Vorläufern, ersten Experimenten, über die Entstehung des Anarchie-Konzepts im 19. Jahrhundert parallel bzw. zu Beginn sogar gemeinsam mit der Entwicklung des Sozialismus.
Stowasser hat einen sehr angenehmen, lockeren Schreibstil, der nicht unnötig mit Fachvokabular überfrachtet ist, was diese „Geschichtsstunde“ extrem spannend und bereichernd macht, zumal man erfährt, wie stark die Idee des Anarchismus / Anarchosyndikalismus von allen Seiten der Repression ausgesetzt war. Der Autor findet darum verständlicherweise auch wenig gute Worte über Kommunisten, Kapitalisten und Faschisten, aber auch nicht für Sozialdemokraten und die Gewerkschaften.
Auch spart es nicht mit Kritik an Gesinnungsgenossen und spießt süffisant die wildesten Sumpfblüten der Bewegung auf; das Totdiskutieren von Projekten aller Art gehört fraglos dazu. Eine Siegesgeschichte um den Preis der Unwahrheit will der Autor nicht erzählen, auch wenn er vielerlei kleine und große Versuche recherchiert hat, die in den letzten 150 Jahren erfolgreich begannen und allesamt scheiterten. Leicht lässt sich in den Fällen der Pariser Commune, des Spanischen Bürgerkriegs und anderer anarchistischen Großunternehmungen, zu denen auch eine weithin unbekannte Episode in der Ukraine, ja sogar eine in Korea zählt, auf den Eingriff militärischer Mächte verweisen.
Anarchismus heute
Etwas ernüchtert ist Stowassers Analyse des heutigen Zustands des Anarchismus, der aktuell durch eine gewisse Rat- und Richtungslosigkeit gekennzeichnet ist, wobei sich andererseits viele Initiativen, die zwar nicht das Label „Anarchie“ tragen, dennoch aber deren Gedanken in die Tat umsetzen, entwickelt haben – selbstverwaltete Firmen, regionales Wirtschaften uvm. – u.a. darum geht es im dritten und kürzesten Teil „Die Zukunft“ des Anarchismus.
Es sind die Fragen, die das Buch so wertvoll machen, es ist das Einfach-Mal-Drüber-Nachdenken, z.B., mit welchem Recht erheben sich Menschen über andere, um ihnen zu befehlen? Mit welchem Recht denken Menschen an den schnellen Euro von heute und verhöhnen das Leben von morgen? Mit welchem Recht zerstören Menschen die Erde? Der Anarchist schlägt vor: Die Hierarchien werden abgeschafft, die Menschen versuchen, in kleinen Gruppen, vernetzt, nach ihrer Fasson, miteinander zu leben, nicht fremdbestimmt, sondern nach dem Prinzip der freien Vereinbarung. Schafft das auch der Mensch? Horst Stowasser kann es nicht beweisen – aber er macht Lust auf den Gedanken, dass wir noch nicht alle Möglichkeiten der Freiheit ausgeschöpft haben.
Aber Vorsicht: Wer ein Patentrezept für ein zukünftiges Gesellschaftssystem erwartet, also eine fertige Anleitung mit integriertem Regelsystem, wird enttäuscht sein, denn so etwas widerspräche irgendwie auch dem Geist des Anarchismus. Vielmehr geht es darum, in vielen Bereichen die festgefahrenen Denkschablonen zu verlassen und Diskussionen über Alternativen zuzulassen und anzuregen. Und zu erkennen, dass Menschen schon seit langem kreativ über ein menschengerechteres Zusammenleben nachdenken. Die Marktwirtschaft ist nicht das Ende der Geschichte.
Verständlich geschrieben und umfassend angelegt, ist dieses Buch ein Standardwerk. Neben einer kritischen Einführung in die freiheitliche Ideenwelt macht der Autor eine Reise durch die reiche Geschichte anarchistischer Experimente.
Horst Stowasser: Anarchie! – Idee – Geschichte – Perspektive
512 Seiten, ISBN 978-3-89401-537-4, Edition Nautilus, 30,- Euro